Die Ungewissheit über die Schulzuweisung kann bei Kindern massiven Stress auslösen. Das haben Forscher der Universität Würzburg in einer bundesweit einzigartigen Studie über die Stressbelastung durch den Übergang nach der Grundschule gezeigt. Vor allem verbindliche Übertrittsempfehlungen, wie sie in Bayern praktiziert werden, führen zu erhöhten Stressbelastungen. Die Forscher sprechen von alarmierenden Signalen.
Wenn Anfang Mai die Übertrittsempfehlungen für Grundschulkinder ausgesprochen werden, sind hiervon in Deutschland mehr als eine halbe Million Viertklässler betroffen. Dort, wo sich der weitere Bildungsweg auf ein Gymnasium, die Real- oder Hauptschule entscheidet, ist die Anspannung bei Eltern und Schülern besonders groß. Schulleitungen und Lehrkräfte berichten von gestressten Schülern und überehrgeizigen Eltern, die mehr von ihren Kindern verlangen, als diese zu leisten in der Lage sind.
Untersuchungen in Bayern und Hessen
Dass diese Wahrnehmung nicht nur für den Einzelfall gilt, zeigt nun eine wissenschaftliche Studie bei 1.620 Eltern von Grundschülern der dritten und vierten Klassen in Bayern und Hessen. Das Team um Professor Heinz Reinders, Inhaber des Lehrstuhls Empirische Bildungsforschung der Universität Würzburg, interessierte sich dabei für das Ausmaß, in dem Eltern und ihre Kinder durch die Zuweisung zu einer weiterführenden Schule in Stress geraten. „In Deutschland wird sehr früh über den gesamten Lebensweg von Kindern entschieden“, kritisiert der Bildungsforscher die Übertrittszeugnisse in der vierten Klasse. Da sei es erwartbar, dass diese so wichtige Entscheidung bei allen Beteiligten zu Stressbelastungen führe. „Mit diesen dramatischen Ergebnissen haben wir aber nicht gerechnet. Insbesondere die Stresswerte für Kinder mit verbindlichen Schulart-Zuweisungen sind alarmierend“, so Reinders weiter.
Weil die Bundesländer unterschiedliche Übergangsregelungen haben, ist auch die Stressbelastung unterschiedlich. In Bayern sind die Übertrittszeugnisse bindend. Das heißt, wenn die Schule den Übertritt an die weiterführende Schule anhand der Noten festlegt, gibt es für die Eltern kaum noch Möglichkeiten, hier mitzuwirken. Das mündet auch in erhöhtem Stress der Kinder. Mit 49,7 Prozent weist fast die Hälfte aller Kinder aus Bayern eine erhöhte Stressbelastung auf. In Hessen handelt es sich hingegen um Empfehlungen für eine weiterführende Schule. Die Eltern entscheiden nach der vierten Klasse selbst, welche Schulart ihr Kind besucht. Entsprechend geringer ist auch der Stress. Lediglich ein Viertel aller hessischen Eltern geben an, dass der Übergang ihr Kind sehr belaste (25,8 Prozent).
Extrem hoher Stress bei jedem sechsten Kind
Weiterhin konnten die Würzburger Bildungsforscher eine besonders gefährdete Gruppe identifizieren, die einen dramatischen Anstieg der Stressbelastung von der dritten zur vierten Klasse aufweist. Immerhin bei 16 Prozent der bayerischen Viertklässler ist die Stressbelastung so hoch, dass im Grunde eine Gefährdung des Kindeswohls nicht mehr weit entfernt sei. „Das sind Schüler in Bayern, deren Noten mit einem Durchschnitt von 2,66 zwischen einer Mittel- und Realschulzuweisung liegen und deren Eltern einen besseren Bildungsabschluss erwarten, als die Kinder realistischerweise leisten können“, beschreibt Reinders diese Risikogruppe.
Die Forscher schlussfolgern aus diesen Befunden, dass die verbindliche Schulzuweisung mit einer deutlich höheren Stressbelastung einhergeht als beratende Empfehlungsmodelle und raten angesichts der sensiblen Entwicklungsphase dringend vom bindenden Modell ab. „Diese Kinder sind zehn Jahre alt und sehen ihre erfolgreichen Altersgenossen an sich vorbeirauschen, während ihre Eltern Leistungsdruck ausüben“, schildert Reinders das Problem, „so etwas geht ja nicht einmal an Erwachsenen spurlos vorüber“. Tatsächlich erhöht sich auch die Stressbelastung der Eltern im Zuge des Übertritts. Mehr als jede zweite Familie in Bayern ist von erhöhten Stresswerten betroffen (54,6 Prozent). Bei den hessischen Eltern ist es hingegen nur ein Drittel, das als stressbelastet gelten muss (33,1 Prozent).
Für die Kinder der Risikogruppe stellt sich zusätzlich das Problem, dass sie über weniger Strategien und Ressourcen zur Stressbewältigung verfügen als beispielsweise Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Nur 49,9 Prozent der Kinder aus Familien mit unteren Bildungsabschlüssen sind aus Sicht ihrer Eltern ausreichend gegen Stress gewappnet. Bei Familien mit Hochschulreife sind 77,2 Prozent der Eltern dieser Ansicht.
Verbindliche Zuweisungen stellen eine Benachteiligung dar
Die Forschergruppe folgert daraus, dass verbindliche Zuweisungen, wie sie in Bayern praktiziert werden, eine weitere Bildungsbenachteiligung für Kinder aus bildungsfernen Familien darstellen. Diese Kinder werden nicht nur auf Grund ihrer sozialen Herkunft häufiger auf untere Bildungsgänge verwiesen, sie erleben auch eine deutlich höhere Stressbelastung durch die verpflichtende Zuteilung zu einer Schulform. Spätere Korrekturen seien zwar durch einen Schulartwechsel im Prinzip möglich, so Reinders, kämen aber in der Praxis viel zu selten vor. „Außerdem ist dann der Schaden im Selbstkonzept und der Lernmotivation der Kinder bereits angerichtet und muss mühsam von den Lehrkräften wieder repariert werden“.
Vielmehr empfehlen die Würzburger Wissenschaftler einen Maßnahmenkatalog, der einen Wechsel von der verbindlichen Zuweisung zur beratenden Empfehlung vorsieht. Schulübertritte sollten eher nach der sechsten Klasse erfolgen und Eltern mindestens ein Jahr vor dem Schulübertritt regelmäßig über Bildungswege des Kindes beraten werden. Akuter Handlungsbedarf bestehe bei der Risikogruppe. „Hier muss die Bildungspolitik sehr rasch handeln und den Grundschulen kurzfristig mehr Ressourcen bei den Schulsozialarbeitern und Schulpsychologen zur Verfügung stellen. Jemand muss diesen Kindern zur Seite stehen“, fordert Reinders mit Nachdruck.
Allerdings, so ergänzt der Bildungsforscher, wären all diese Maßnahmen in einem eingliedrigen Schulsystem nicht notwendig.