Ein düsteres Bild vom Zustand Europas wurde bei einer Diskussionsveranstaltung an der Uni gezeichnet. „Was wollen wir gemeinsam erreichen?“ Darüber müssten die europäischen Staaten endlich ernsthaft debattieren.
Verstöße gegen den Stabilitätspakt. Streit wegen des Umgangs mit Flüchtlingen. Uneinigkeit angesichts von Krisen in Nachbarstaaten. Der derzeitige Zustand der Europäischen Union sorgt für wachsendes Unbehagen. Viele Menschen fragen sich: „Warum und wozu eigentlich Europa?“ Um dieses Thema ging es am 21. Oktober bei einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung im Universitätsgebäude am Wittelsbacherplatz. Die rund 80 Besucher waren vorwiegend Studierende.
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet von der Universität Würzburg machte in ihrem Impulsvortrag einige Anmerkungen, zu denen sich danach eine Diskussion entspinnen sollte. Was die Professorin für Europaforschung und internationale Beziehungen dem Publikum präsentierte, ließ den Zustand Europas düster und bedenklich erscheinen.
Europawahl 2014 als Desaster
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise und den heftigen Auseinandersetzungen darüber, wie die gemeinsame Währung Euro gerettet werden kann, sei die Akzeptanz für das „Projekt Europa“ in beunruhigender Weise gesunken, wie Müller-Brandeck-Bocquet ausführte: Die Beteiligung an der Europawahl 2014 betrug magere 42,5 Prozent; früher lag sie über 60 Prozent.
Zudem brachte diese Wahl viele europaskeptische und offen europafeindliche Parteien ins Parlament, darunter die UKIP aus Großbritannien, die AfD aus Deutschland, den Front National aus Frankreich oder die Cinque Stelle aus Italien. „Zum Glück konnten sich die Europafeinde um den FN nicht zu einer Fraktion zusammenraufen“, so die Professorin.
Brüchige Fundamente, alte Ressentiments
Europas Fundamente halten offenbar nur in guten Zeiten, werden bei einer Krise aber schnell brüchig: „Selbst nach 60 Jahren Integrationsarbeit ist es erstaunlich, wie angesichts der Staatsschuldenkrise schnell alte Ressentiments wieder durchgebrochen sind“, meinte Müller-Brandeck-Bocquet: Da wurde Kanzlerin Angela Merkel mit Hitlerbärtchen dargestellt, da wurden Südländer pauschal als Faulpelze bezeichnet.
Gibt es überhaupt eine europäische Solidarität? Da hat die Professorin Zweifel: „Es ist noch ein weiter Weg, die europäische Integration auf Dauer abzusichern.“ Dabei sei eine handlungsfähige Europäische Union unverzichtbar: Wegen der Krisen in ihrer direkten Nachbarschaft: in der Ukraine, in Syrien, in Afrika. Und um im Wechselspiel mit anderen Mächten wie den USA, China oder Indien weltweit Geltung zu behalten – sofern Europa das überhaupt wolle.
Was wollen die Europäer überhaupt gemeinsam erreichen? Welchen Weg der Demokratie wollen sie gehen? Wie wichtig ist ihnen der „european way of life“? „Diese Debatten stehen dringend an, denn sie wurden bislang nicht ernsthaft geführt“, so die Würzburger Europa-Expertin.
Frankreichs Haltung zu einer EU-Außenpolitik
In Frankreich zumindest gebe es große Erwartungen an ein Europa, das eine gemeinsame Außenpolitik betreibt. Das sagte der in München ansässige französische Generalkonsul Jean-Claude Brunet in seinem Redebeitrag. Dass Frankreich zum Beispiel Krisen in seinen früheren afrikanischen Kolonien grundsätzlich im militärischen Alleingang lösen wolle, um dort Einfluss zu behalten, stimme nicht zu 100 Prozent. „Es gab in den vergangenen Jahren bei uns viele Überlegungen, wie man eine neue Afrikapolitik definieren könnte – mit dem Ziel, dass die afrikanischen Länder ihre Krisen selbst und gemeinsam meistern, im Sinne einer Afrikanischen Union.“
Lob für das Europastipendien-Programm
Die aktuelle Skepsis gegenüber Europa interpretierte Brunet positiv: „Das zeigt, dass die Menschen sehr große Erwartungen an Europa haben.“ Der Generalkonsul lobte das Europastipendien-Programm, das vom Würzburger Ehepaar Hanna und Georg Rosenthal ins Leben gerufen wurde, als „wunderbare“ integrierende Initiative – es fördere die Mobilität von Studierenden und die Bildung europäischer Netzwerke. Uni-Vizepräsidentin Barbara Sponholz hatte in ihrem Grußwort die Idee des Europa-Stipendiums vorgestellt.
Seit diesem Semester studieren elf Europa-Stipendiaten an den drei Würzburger Hochschulen; neun von ihnen sind an der Universität. Sie nahmen als „Botschafter Europas“ an der Diskussion am Wittelsbacherplatz ebenso teil wie das Ehepaar Rosenthal. Moderiert wurde die Veranstaltung von Gunther Schunck (Vogel Business Media); die Organisation lag in den Händen von Michaela Thiel (Alumni-Büro) und Matthias Nowak (Präsidialbüro).