Auf dem Weg zur inklusiven Schule


Herausfordernd, spannend und manchmal auch schwierig ist der Weg bayerischer Schulen zur Inklusion. Der bisherige Verlauf und weitere notwendige Schritte standen im Mittelpunkt einer Tagung an der Universität Würzburg. Das Interesse daran war gewaltig.

Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Inklusive Schule“. Mit einem Vertreter aus dem bayerischen Kultusministerium. Dem Präsidenten des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Einer Elternsprecherin. Und 450 Zuhörern, von denen 90 Prozent Lehrkräfte sind. Da sollten doch eigentlich die Fetzen fliegen. Dass es dazu nicht kam, kann eigentlich nur einen Grund haben: Erschöpfung! Immerhin hatten die Beteiligten in den davor liegenden sechs Stunden bereits zwei Expertenvorträge zum Thema Inklusion verfolgt, hatten in einer Vielzahl von Workshops Beispiele aus der Praxis kennen gelernt und waren über das Forschungsprojekt BIS informiert worden, das den Fortschritt der Inklusion an Bayerns Schulen untersucht.

Oder sollte es doch daran liegen, dass Bayern die Umsetzung äußerst pragmatisch angegangen ist und deshalb die Diskussion sachlich und konstruktiv läuft, wie Georg Eisenreich, Staatssekretär im bayerischen Kultusministerium am Ende des Tages sagte?

Großes Interesse in ganz Bayern
Gut 450 Lehrkräfte aus ganz Bayern waren am 12. Februar nach Würzburg gekommen zur Fachtagung „Bayern auf dem Weg zu inklusiven Schulen“. Dabei war die Nachfrage so groß gewesen, dass die Organisatoren vielen Interessenten hatten absagen müssen. Eingeladen zu der Tagung hatte das Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg – speziell die Mitglieder im Team des Begleitforschungsprojekts Inklusive Schulentwicklung BIS, einem gemeinsamen Projekt der JMU Würzburg und der LMU München. Ziel sollte es sein, zum einen den aktuellen Stand des Forschungsprojekts vorzustellen; zum anderen wollten die Organisatoren „sowohl theoretisch als auch sehr praxisnah Impulse für Lehrkräfte allgemeiner Schulen, Lehrkräfte für Sonderpädagogik, Schulleiter und all jene geben, die derzeit mit der inklusiven Schulentwicklung befasst sind“, wie es in dem Einladungsschreiben heißt.

Das Begleitforschungsprojekt Inklusive Schulentwicklung
Auf drei Jahre ist das Forschungsprojekt BIS angelegt; mit vier aufeinander abgestimmten Teilprojekten wollen die Wissenschaftler Erfolgsbedingungen für inklusionsorientierte Entwicklungen ermitteln und eine „inklusive Schulentwicklung anstoßen“, wie Professor Reinhard Lelgemann, Inhaber des Lehrstuhls für Sonderpädagogik II an der Universität Würzburg, in seinem Vortrag sagte. Lelgemann ist gemeinsam mit Professor Erhard Fischer, Inhaber des Lehrstuhls für Sonderpädagogik IV, Leiter des Projekts auf Würzburger Seite.

Eines dieser Teilprojekte ist die Befragung aller bayerischen Schulen zur Umsetzung des inklusiven Gedankens. „Dabei ging es darum, den Ist-Stand im Frühjahr 2014 zu erfassen und die grundlegende Einstellung der Schulleitungen kennen zu lernen“, so Lelgemann.

Umfrage an 6000 Schulen
Erste Zwischenergebnisse dieser Umfrage stellten Lelgemanns Mitarbeiter Dr. Christian Walter-Klose und Philipp Singer in einem Workshop vor. Demnach haben noch nicht alle „Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf“, wie es in der Fachsprache heißt, Zugang zu allen Schulen in Bayern, erläuterte Christian Walter-Klose. Vor allem der Wechsel von der Grundschule in eine weiterführende Schule sei für sie noch mit zahlreichen Hürden und Problemen verbunden.

6000 Schulen hatten die Wissenschaftler bayernweit angeschrieben; immerhin 1500 Schulleitungen hatten die Online-Fragebögen beantwortet. Von ihnen gaben 70 Prozent an, dass an ihrer Schule wenigstens ein Kind mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet werde. Ganze 16 Prozent allerdings hatten sich mit dem Thema „Inklusive Schule“ noch überhaupt nicht beschäftigt. Befragt nach ihren Wünschen für die Umsetzung des Inklusionsgedankens, standen die Punkte „Bessere personelle und finanzielle Ausstattung“ und „Mehr Angebote in der Aus- und Weiterbildung“ ganz oben auf der Liste, so Walter-Klose.

In weiteren Teilgebieten des BIS-Projekts wollen die Sonderpädagogen eine Skala entwickeln, die es ermöglicht, die inklusive Qualität von Schulen und deren Entwicklungsstand abzubilden und einzuschätzen. In der Teilstudie „Unterrichtsentwicklung“ wollen sie inklusiven Unterricht analysieren und damit „Gelingensbedingungen von Inklusion auf der Ebene von Unterricht“ identifizieren, wie Reinhard Lelgemann sagte. Ziel sei es unter anderem, „praxistaugliche Hilfen für die Planung und Durchführung inklusionsorientierten Unterrichts zu gewinnen“. In zwei weiteren Teilprojekten stehen die Zusammenarbeit der Lehrkräfte unterschiedlicher Schularten sowie schulische und außerschulische Unterstützungssysteme im Fokus. Auf einem Abschlusskongress am 18. und 19. Februar 2016 werden die Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Studien vorstellen – dann allerdings an der LMU in München.

Kontroverse Podiumsdiskussion
„Bayern auf dem Weg zur inklusiven Schule. Herr Eisenreich, wie lange dauert das denn noch?“ Mit dieser Frage konfrontierte bei der abschließenden Podiumsdiskussion Moderator Dr. Michael Spieker von der Akademie für Politische Bildung Tutzing den Vertreter der Politik in der Runde der sechs Teilnehmer, Staatssekretär Georg Eisenreich. „Es wird schon noch ein bisschen dauern“, lautete dessen Antwort. Auch wenn in Bayern mit Nachdruck an dem Thema gearbeitet werde, könne man doch nur schrittweise vorankommen. Schließlich sei Schulentwicklung immer „harte Arbeit“.

Mehr Tempo, mehr Radikalität, mehr Geld
Etwas mehr Tempo in dem Prozess wünschte sich Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Seiner Meinung nach müssten vier Bedingungen erfüllt sein, bevor Bayerns Schullandschaft wirklich inklusiv werden kann: Barrieren in den Köpfen müssten verschwinden, Eltern mehr miteinander reden, Lehrer müssten besser vorbereitet sein und der Staat müsse die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen. „Wer Inklusion erfolgreich machen möchte, muss Geld in die Hand nehmen“, so Wenzel. Eine Aussage, für die er großen Applaus erhielt.

Mehr Radikalität im Denken forderte Professor Ewald Feyerer, Leiter des Instituts Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Seiner Meinung nach sei in Bayern zwar das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen zu 100 Prozent verwirklicht; was den Zugang zu Bildung betrifft, sei jedoch gerade mal ein Grad von 20 Prozent erreicht. Dass auch in Förderschulen gute Arbeit geleistet werde, wollte Feyerer nicht in Abrede stellen – aber dort passiere das eben nicht in Gemeinschaft mit anderen. „Erst müssen alle räumlich beisammen sein. Dann kann man sich Gedanken über die Qualität machen“, so der Pädagoge.

Radikale Inklusion ist realitätsuntüchtig
Den Gegenpart zu Ewald Feyerer hatte Professor Bernd Ahrbeck bei der Podiumsdiskussion inne. Ahrbeck ist Inhaber des Lehrstuhls für Verhaltensgestörtenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und hatte schon in seinem Fachvortrag erkennen lassen, dass er einer vollständigen Inklusion skeptisch gegenüber steht. „Inklusion, wenn sie in radikaler Form gefasst wird, ist ein realitätsuntüchtiges Ideal“, hatte er dort erklärt. Schule müsse die Kinder auf die Anforderungen der Gesellschaft vorbereiten, und in der sei Leistung gefordert. „Deshalb müssen Schulen auch Bildungsstandards als Grundlage unserer Kultur anerkennen“, so Ahrbeck. Was Ewald Feyerer sofort mit der Bemerkung quittierte: „Inklusiver Unterricht geht auch mit Leistungsprinzip – aber nicht im Sinne von Konkurrenz“.

Förderschulen sind erfolgreich
Auf die Erfolge bayerischer Förderschulen wies Manfred Steigerwald, stellvertretender Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Förderschulen in katholischer Trägerschaft, hin: „Kinder mit Förderbedarf existieren. Unser System liefert eine gute Antwort.“ In Förderschulen erhielten diese Kinder eine optimale Unterstützung und die Möglichkeit zur Teilhabe. Dies bestätige auch die Tatsache, dass ein Großteil der Förderschüler einen berufsqualifizierenden Abschluss erhielten und ihnen der Wechsel in den Beruf gelinge. Auf diesen Erfolgen ruhen sich die Förderschulen nach seinen Worten allerdings nicht aus: „Auch wir suchen nach besseren Antworten auf neue Herausforderungen.“

Eltern sind ungeduldig
„Wir sind ungeduldig, uns geht der Prozess viel zu langsam!“ Mit diesen Worten machte Henrike Paede, stellvertretende Landesvorsitzende im Bayerischen Elternverband, klar, was sie von Bayerns Weg zu inklusiven Schulen hält. Zwar bewege sich Bayern in die richtige Richtung – leider aber nur in kleinen Schritten. Ihr schwebt eine Schule vor, in der man „jedes Kind mit seinen Fähigkeiten nimmt und dementsprechend fördert“. Wenn heute 15 Prozent der Kinder in der Regelschule auffällig seien und damit 85 Prozent der Aufmerksamkeit eines Lehrers forderten, sei das ein Systemfehler. Richtige Inklusion ist deshalb ihrer Meinung nach „nicht mit nur einem Lehrer in der Klasse möglich.“ Auch für diese Aussage gab es kräftigen Applaus.

Begrüßung durch den Unipräsidenten
„Es ist keine leichte Aufgabe, ein über Jahrhunderte gewachsenes Bildungssystem umzukrempeln.“ So könnte das Fazit am Ende einer langen Fachtagung lauten. Gesprochen hatte diese Worte ganz am Anfang Unipräsident Alfred Forchel in seiner Begrüßungsrede. Um allen Menschen eine angemessene und individuelle Entwicklung und Teilhabe zu ermöglichen, sei eine Umorientierung nötig. An den Schulen laufe diese bereits, und auch die Universität mache sich darüber Gedanken, so Forchel. Damit diese Aufgabe gelinge, sei Austausch wichtig. Die Fachtagung habe dafür die passende Bühne bereitet.